Von Göttingen nach Windhoek
Ein kolonialer Adler wird zum Anti-Kolonialdenkmal
Von Hendrik Resen
Fast
sieben Jahrzehnte hatte das Göttinger "Südwestafrika-Denkmal"
mehr oder weniger unbeachtet überstanden, bis es im Jahr 1978 in die
Schlagzeilen der lokalen Presse geriet: Unbekannte hatten den bronzenen Adler
gestohlen, der mit seinen breit ausladenden Schwingen den Sockel des
Kolonialkriegerdenkmals an der Geismarlandstraße krönte. Wie später
bekannt wurde, sind es mit den Befreiungsbewegungen im südlichen Afrika
sympathisierende Studenten gewesen, die das "Symbol finstersten
Kolonialismus und Ausbeutertums" bei einer "anti-imperialistischen
Aktion" abmontiert haben. Seitdem kursierten verschiedene Gerüchte
über den Verbleib der Adlerfigur.
1999
ist der verschollene Adler 11.000 Kilometer weiter südlich von seinem ursprünglichen
Aufstellungsort, in Namibia, wieder ans Licht der Öffentlichkeit gekommen.
Wiederaufgetaucht ist allerdings nur der Kopf - wohl das einzige erhaltene
Teilstück des Bronzeadlers. Ende Juli des Jahres wurde er in Windhoek an
die Vorsitzende der Student-History-Society, Abena Yeboah, übergeben.
Zur Übergabe des kleinen, aber symbolträchtigen Relikts aus der Kolonialzeit war eine Gruppe von Dozenten und Geschichtsstudenten auf dem Campus der Universität von Namibia zusammengekommen. Als Kulisse für die Zeremonie diente das seit 1995 auf dem "Platz der Helden" stehende Denkmal für Simon Bolivar, dem Vorkämpfer der lateinamerikanischen Unabhängigkeitsbewegung. Der Historiker Werner Hillebrecht hielt eine kurze Rede, in der er die Geschichte des Denkmals noch einmal Revue passieren ließ (siehe die Chronik). Er berichtete, dass das Göttinger Denkmal dem Gedächtnis von vier deutschen 'Schutztruppensoldaten' galt, die "1904-1906 für Kaiser und Reich in Südwestafrika" (Denkmalinschrift) gestorben sind. Während in Deutschland wie in Namibia für die gefallenen deutschen Kolonialsoldaten eine beträchtliche Zahl von Denkmälern errichtet wurden, so Hillebrecht weiter, gibt es bis heute kein einziges Monument, das die afrikanischen Opfer des verheerenden Kolonialkriegs von 1904-1907 memoriert. So soll der Adlerkopf nunmehr ein Zeichen zum mahnenden Gedächtnis des Völkermords an den Herero und Nama sein, ein Symbol des anti-kolonialistischen Widerstands, der Befreiung und der internationalen Solidarität.
Wie
die Student-History-Society mitteilte, ist für den Adlerkopf ein Platz im
Eingangsbereich der Universitätsbibliothek vorgesehen, wo er als "antikolonialistisches
Mahnmal" aufgestellt werden soll.
Chronik
des Göttinger Südwestafrika-Denkmals:
1910:
Errichtung des Denkmals (Sockel mit Inschrift) durch das 2. Kurhessische
Infanterie Regiment Nr. 82. Der bronzene Adler wurde 1913 hinzugefügt.
1935:
In einem Ende Dezember im Göttinger Tageblatt erschienen Artikel mit dem
Titel "25 Jahre Südwestafrika-Denkmal. Deutschland braucht Kolonien"
heißt es: "Er (der Adler) hält mit ausgebreiteten Schwingen
Wacht über unserm einzigartigen Afrikaner-Denkmal und wartet auf den Tag,
an dem das 'Volk ohne Raum' wieder Siedlungsland und Rohstoffland bekommen wird."
1978:
Unbekannte demontierten Adler und Widmungstafel. Anonyme Anrufer teilten
daraufhin dem Göttinger Tageblatt mit, dass sich das "kolonial-faschistische
Denkmal", dieses "Symbol finstersten Kolonialismus und Ausbeutertums
in Gefangenschaft der Sachverwalter der Unterdrückten und Entrechteten
befinde". Indirekt bekannten sich Mitglieder vom Kommunistischen Bund
Westdeutschland (KBW) zu dem Denkmalsturz. Es gab verschiedene Gerüchte
über den Verbleib des Adlers. Tatsächlich wurde die entwendete
Adlerfigur in einzelne Teile zersägt; diese sollten eingeschmolzen und die
Bronze für den Guß von "Befreiungsmedaillen" verwendet
werden. Wegen technischer Schwierigkeiten konnte dieser Plan so nicht durchgeführt
werden, weshalb die meisten Bronzeteile des Adlers zusammen mit der steinernen
Inschriftentafel vergraben wurden. Das Kopffragment wurde 1978 auf der 1. Mai-Veranstaltung
der Ortsgruppe Göttingen des KBW versteigert. Den Erlös erhielt die
Befreiungsbewegung Zimbabwe African National Union (ZANU). Der Adlerkopf
gelangte danach in Privatbesitz. Die Debatten im Rat der Stadt Göttingen
über den weiteren Umgang mit dem leeren Denkmalsockel führten zu dem
Ergebnis, diesen ohne Adler mit einer modifizierten Gedenktafel stehen zu lassen.
Folgende Texttafel wurde der erneuerten ursprünglichen Inschriftentafel
hinzugefügt: "Der Bronzeadler und die Gedenkplatte sind am 7.4.1978
von Unbekannten gestohlen worden."
1990:
Anläßlich der bevorstehenden Unabhängigkeit Namibias fordert die
Ratsfraktion der Grün-Alternativen Liste im Göttinger Stadtparlament
die Errichtung einer Informationstafel, die "über die Hintergründe
des deutschen Kolonialkrieges in Südwestafrika, in dem Zehntausende Hereros
und Nama getötet wurden", unterrichtet. Außerdem soll eine
Gedenktafel am Denkmalsockel für die Opfer des deutschen Kolonialismus in
Namibia aufgehängt werden. Der Antrag wurde im Kulturausschuss abgelehnt.
1999:
Der übriggebliebene Kopf des Adlers gelangte - im Auftrag seines letzten
Besitzers - nach Windhoek/Namibia und wurde dort am 28. Juli an die
Student-History-Society übergeben.
(1): Südwestafrika-Denkmal in Göttingen.
(2): Überbleibsel: Der bronzene Adlerkopf des 1978 gestohlenen Göttinger Kolonialkriegerdenkmals.
(3): Übergabe des bronzenen Adlerkopfs an die Vorsitzende der Student-History-Society, Abena Yeboah (rechts neben der Büste von Simon Bolivar). Überreicht wurde das koloniale Relikt von den beiden Historikern Joachim Zeller (links neben der Büste) und Werner Hillebrecht (rechts hinten). Die Übergabe fand am 28. Juli 1999 auf dem Campus der Universität von Namibia (UNAM) statt. Das Bild zeigt weitere UNAM-Studenten sowie den Historiker und Universitätsdozenten Jeremy Silvester (vierter von links).
Literatur:
Werner
Hillebrecht: Colonial Eagle Flies To Namibia, in: The Namibian-Weekender,
13.8.1999.
Hendrik
Resen: Von Göttingen nach Windhoek. Ein kolonialer Adler wird zum Denkmal
gegen den Kolonialismus, in: afrika süd. Zeitschrift zum südlichen
Afrika, Sept./Okt. 1999, S. 38. Siehe auch Namibia Magazin 1/2000, S. 23.
Joachim
Zeller: Kolonialdenkmäler und Geschichtsbewußtsein. Eine Untersuchung
der kolonialdeutschen Erinnerungskultur, IKO-Verlag für Interkulturelle
Kommunikation, Frankfurt/M. 2000.
Page created and serviced by
www.namibweb.com
Copyright © 1998-2025
namibweb.com - The online guide
to Namibia
All rights reserved |
JOIN
|
VIDEO PORTFOLIO
|
VIDEO/PHOTO COLLECTION
Telegram
| YouTube |
Blog
Page is sponsored by ETS &
Exploring Namibia TV
Disclaimer: no matter how often this page is updated and its accuracy is checked,
www.namibweb.com and ETS
will not be held
responsible for any change in opinion, information, facilities, services,
conditions, etc. offered by
establishment/operator/service/information provider or any third party